Rentenreform: Sicherheit für Generationen
Ab März 1955: Sozialreform nimmt Fahrt auf
Bundeskanzler Adenauer bemüht sich verstärkt darum, die umfassende Sozialreform voranzutreiben. Auf sein Drängen legt der Bundesminister für Arbeit, Anton Storch, im April seine „Grundgedanken zur Gesamtreform der sozialen Leistungen“ vor. Außerdem lässt Adenauer ein Professorengutachten erstellen und ordnet die Einsetzung des Interministeriellen Ausschusses für die Sozialreform und des Ministerausschusses für die Sozialreform an – er selbst will das sogenannte „Sozialkabinett“ leiten. Die große Sozialreform sei – so sagt er in einem Interview im August – die „innerpolitische Aufgabe Nr. 1 schlechthin“.
Ab Oktober 1955: Grundlagen der Reform
Das „Sozialkabinett“ beschränkt seine Beratungen zunehmend auf ein Konzept für eine Reform der Renten- und Invaliditätsversicherung und erarbeitet somit die Grundlagen für den Gesetzentwurf.
13. Dezember 1955: Vorstellung des „Schreiber-Plans“
Der Wirtschaftswissenschaftler Wilfrid Schreiber stellt in der Sitzung des Ministerausschusses für die Sozialreform den sogenannten „Schreiber-Plan“ vor, der eine dynamische Rente und die Finanzierung der Alterssicherung durch einen Generationenvertrag vorsieht.
Mai 1956: Beratungen über Gesetzentwürfe
Mit dem ersten Gesetzesentwurf für eine Neuregelung der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten kann Bundesarbeitsminister Storch im Kabinett keine Einigung erreichen. Bei der elf Tage später, am 23. Mai, folgenden Beratung über den zweiten Gesetzentwurf werden einige der zuvor im „Sozialkabinett“ erzielten Ergebnisse wieder infrage gestellt. Es scheint, als stehe die Bundesregierung am Anfang der Beratungen des Gesetzentwurfs; Fritz Schäffer, Bundesminister der Finanzen, und Ludwig Erhard, Bundesminister für Wirtschaft, werden in entscheidenden Fragen überstimmt. Es wird beschlossen, den Gesetzentwurf dem Bundesrat zuzuleiten, in dessen Beratungen redaktionelle Änderungen eingebracht werden sollen.
27. Juni 1956: neue Rentenformel
In der Debatte zur Einbringung des Gesetzentwurfs im Deutschen Bundestag erläutert Bundesarbeitsminister Storch die Reform: Die neue Rentenformel gehe von dem Gedanken aus, dass das Einkommen des Einzelnen seinen Beitrag zur Erstellung des Sozialprodukts der jeweiligen Periode zum Ausdruck bringe.
Anfang Oktober 1956: wiederaufflackernde Debatten
Es kommt im Kabinett zu einer erneuten Diskussion über grundsätzliche Fragen der Rentenreform, nachdem kritische Äußerungen von Bundeswirtschaftsminister Erhard und Bundesfinanzminister Schäffer über den Gesetzentwurf in der Öffentlichkeit bekannt werden. Erhard warnt insbesondere vor der Gefahr einer Inflation bei der Realisierung der Rentenreform und mahnt Korrekturen des Entwurfs an.
17. Oktober 1956: Adenauer lehnt Änderungsvorschläge ab
Das Kabinett behandelt die Vorlage von Bundesfinanzminister Schäffer vom 29. September, die den Vorschlag enthält, die Beratung des Entwurfs im Bundestagsausschuss aussetzen zu lassen, sowie seine Vorlage vom 15. Oktober, in der er die Grundsätze der Reform ändern will. Adenauer lehnt Schäffers Änderungsvorschläge ab und stimmt lediglich in dem Punkt zu, dass die kleinen Renten mehr als vorgesehen angehoben werden sollen.
24. Oktober 1956: Ende der Kabinettsdiskussion
Die neue Vorlage von Bundesarbeitsminister Storch wird in der Kabinettssitzung angenommen. Die Diskussion im Kabinett über die Rentenreform ist beendet.
November/Dezember 1956: Adenauer holt Koalitionsparteien ins Boot
Bundeskanzler Adenauer bemüht sich um die Zustimmung der Koalitionsparteien zu den in langwierigen Verhandlungen innerhalb der CDU/CSU-Fraktion erarbeiteten Stellungnahmen zur Rentenreform.
21. Dezember 1956: Arbeit am Reformpaket beendet
Der sozialpolitische Ausschuss des Bundestages beendet nach 42 Sitzungstagen in insgesamt 190 Stunden seine Arbeit am Reformpaket.
21. Januar 1957: Redemarathon und Verabschiedung
Der Bundestag verabschiedet nach einem viertägigen Redemarathon mit großer Mehrheit die Reform der gesetzlichen Rentenversicherung. Für Arbeiter und Angestellte gelten dabei getrennte Gesetze. Von 439 Abgeordneten sprechen sich 397 für die Reform aus. Mit Nein stimmen 32 Abgeordnete, zehn enthalten sich der Stimme.
8. Februar 1957: Bundesrat stimmt Reformgesetzen zu
Der Bundesrat stimmt den Reformgesetzen zu, die rückwirkend zum 1. Januar 1957 in Kraft treten. Der Übergang von einem grundsätzlich am Kapitaldeckungsverfahren orientierten Sicherungssystem zu einem Umlagesystem wird vollzogen, das Äquivalenzprinzip von Beitrag und Leistung gestärkt und durch die Einführung der lohnbezogenen Dynamik der Renten und Rentenanwartschaften die Teilhabe der Rentner an den gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen ermöglicht. Der durchschnittliche Rentenzahlbetrag steigt um rund 65 Prozent in der Arbeiterrentenversicherung und 72 Prozent in der Angestelltenversicherung. Zudem wird die Rehabilitation zur Aufgabe der Rentenversicherungsträger erklärt und in die gesetzlich festgelegte Liste der Regelleistungen aufgenommen.
Die Umstellung vom Kapitaldeckungs- auf das Umlageverfahren findet schrittweise statt: Zunächst wird ein sogenanntes modifiziertes Umlageverfahren zur Rentenfinanzierung genutzt. 1969 erfolgt mit dem „Dritten Rentenversicherungs-Änderungsgesetz“ der endgültige Umstieg auf eine Umlagefinanzierung.
23. Februar 1957: Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt
Das Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz und das Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz werden im Bundesgesetzblatt veröffentlicht. Das Knappschaftsrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz folgt am 21. Mai 1957.
15. September 1957: Wahlerfolg durch Rentenreform für die Union
Bei der Wahl zum dritten Deutschen Bundestag errangen die Unionsparteien den größten Wahlerfolg bei einer Bundestagswahl in der Geschichte der Bundesrepublik: CDU/CSU erhielten 50,2 Prozent der Stimmen und hatten mit 277 von 519 Sitzen die absolute Mehrheit im Parlament. Die Rentenreform dürfte zu diesem Ergebnis einen wesentlichen Beitrag geleistet haben.