Deutsche Rentenversicherung

Anwendung und Ergänzung der ICF-Kontextfaktoren bei der Teilhabe am Arbeitsleben durch unterstützte Beschäftigung

Stand 22.03.2011 Kostenlos

Hintergrund


Die Bundesrepublik Deutschland verfügt über ein hochentwickeltes System zur beruflichen Qualifizierung von behinderten oder von Behinderung bedrohten Menschen, um deren Teilhabe am Arbeitsleben zu erreichen. Zahlreiche Rehabilitationseinrichtungen oder beauftragte freie Träger werden von den verschiedenen Rehabilitationsträgern beauftragt, berufliche Qualifikationen nach dem Prinzip „Integration durch Qualifikation“ zu vermitteln, um dem deutschen Grundsatz der Rehabilitation „Rehabilitation vor Rente“ umzusetzen.


Aus verschiedenen Gründen, die hier nicht dargelegt werden können, gibt es dennoch einen hohen Anteil von Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung nicht oder noch nicht in den allgemeinen Arbeitsmarkt integriert werden können. Der Großteil dieser Menschen findet seinen Arbeitsplatz in einer Werkstatt für behinderte Menschen. Nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen (BAG WfbM) sind dies derzeit (2011) rund 285.000 beschäftigte Mitarbeiter mit Behinderungen. Die Steigerungen der Zugänge zu den Werkstätten im letzten Jahrzehnt sind enorm, wie der Forschungsbericht des ISB im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) aufweist. [Detmar, W. et al. 2008]. Nahezu jeder zweite Euro von den rund 8,7 Milliarden Euro, die in Deutschland für berufliche Rehabilitation aufgewendet werden, wird für Werkstätten für behinderte Menschen ausgegeben [Zelfel, R. C. 2008].


Bereits mit der Einführung des SGB IX im Jahr 2001 wurde das neue Instrument der Integrationsprojekte geschaffen, um die Lücke zwischen allgemeinen und besonderen Arbeitsmarkt zu füllen. Die Umsetzung mit rund 450 Integrationsbetrieben ist eher zögerlich. Weitaus bedeutender sind jedoch die Bemühungen, Menschen mit umfänglichen Behinderungen und beruflichen Qualifikationen unterhalb des dualen Berufsbildungssystems in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu integrieren. Eine Zielsetzung hierbei ist auch Platzierung von Beschäftigten in den Werkstätten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Einen der ersten Forschungsberichte für Deutschland legten Kaßelmann und Rüttgers [Kaßelmann, O.et al. 2005], eine hervorragende Übersicht Doose [Doose, S. 2007] vor.


Am 30.12.2008 trat der § 38 a des SGB IX in Kraft, der die „unterstützte Beschäftigung“ für Menschen mit Behinderungen regelt. 50.000 Stellen für behinderte Menschen, so einige Politiker, sollen damit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erschlossen werden. Unter der Verwaltung der Bundesagentur für Arbeit sollen und werden seitdem Menschen mit Behinderungen im allgemeinen Arbeitsmarkt platziert.


Fragestellung


Die ICF, so die erklärte Absicht aller Rehabilitationsträger, soll Grundlage der Reha-Planung und -Durchführung sein. Es ergeben sich deshalb aktuelle Fragen:

  • Ist die ICF in der deutschsprachigen Fassung in der Lage, diese neue Entwicklung zu begleiten?
  • Sind die ICF-Items passgerecht für die Umsetzung in der Praxis?
  • Welche Anpassungen bzw. Konkretisierungen sind in einem Konsens der Rehabilitationsträger und Leistungserbringer vorzunehmen?
  • Bietet das Konzept der Kontextfaktoren eine gute Basis für die Integration von Menschen mit Behinderungen in den allgemeinen Arbeitsmarkt?


Vorschläge


Komponente: Aktivitäten, Partizipation


Bevor nun der Blick in die Kontextfaktoren gerichtet wird, soll der Blick auf das derzeit unzureichende Item „d850 Bezahlte Tätigkeit“ gerichtet werden. Hierbei wird unterstellt, dass das Item „d845 Eine Arbeit erhalten, behalten und beenden“ insofern positiv codiert wird, dass Hilfen z. B. der Arbeitsagentur oder eines Integrationsfachdienstes zur Verfügung steht. Das Item d850 unterscheidet nur zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit (d855). Auf eine Neuregelung wurde bereits in dieser Anwenderkonferenz hingewiesen [Zelfel, R. C. 2007]. Bezogen auf den derzeitigen Stand der Teilhabe am Arbeitsleben in Deutschland wäre eine Revision im folgenden Sinne erforderlich:


Vorschlag Revision d850


d850n Bezahlte Tätigkeit in Praktikum, Probebeschäftigung (exkl. Praktikum im Rahmen einer Qualifizierung, Arbeitserprobung, Berufsfindung)
d850n Bezahlte Tätigkeit in einer WfbM
d850n Bezahlte Tätigkeit an einem vorübergehend ausgelagerten Arbeitsplatz der WfbM
d850n Bezahlte Tätigkeit an einem dauerhaft ausgelagerten Arbeitsplatz der WfbM
d850n Bezahlte Tätigkeit an einem Arbeitsplatz im Integrationsprojekt
d850n Bezahlte Tätigkeit an einem Arbeitsplatz in einem Betrieb des allgemeinen Arbeitsmarktes.
Im Rahmen der „unterstützten Beschäftigung“ sollte des Weiteren den Items d8501 bzw. d8502 (Voll-/Teilzeitbeschäftigung) besondere Aufmerksamkeit gezollt werden, da die meisten Untersuchungen einen hohen Anteil an Teilzeitarbeit ausweisen. Z. B. Abstufung 10, 20, 30 Stunden.


ICF Kontextfaktoren im Hinblick auf unterstützte Beschäftigung


Eine inhaltliche Analyse der einschlägigen Untersuchungen zur unterstützten Beschäftigung ergeben folgende Faktoren für eine erfolgreiche Eingliederung am
Arbeitsplatz:

  • Politik der Integration/Inklusion für Menschen mit Behinderungen
  • Einstellungen der Arbeitgeber zur Beschäftigung von Behinderungen
  • Finanzielle Unterstützung der Arbeitgeber in der Platzierungsphase
  • Finanzielle Unterstützung der Arbeitgeber dauerhaft als Minderleistungsausgleich
  • Dienste zur Akquisition von potenziellen Arbeitsplätzen
  • Integrationshelfer/innen bzw. Beratungsdienste in der Integrationsphase
  • Arbeitassistenz
  • Qualifizierungsangebote für das „training on the job“
  • Regelungen des persönlichen Budgets.


Diese Faktoren sollen den Kontextfaktoren des ICF-Konzeptes zugeordnet werden. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Unterstützte Beschäftigung (BAG UB) hat entsprechende Handlungsansätze vorgelegt [Blesinger, B. o.J.]. Der europäische Dachverband zur unterstützten Beschäftigung EUSE hat Rahmenbedingungen für Qualitätsstandards für Anbieter der unterstützten Beschäftigung formuliert, in denen Organisation, Prozess und Ergebnisse dargestellt sind [EUSE: Europäischer Dachverband für unterstützte Beschäftigung 2007].


e120 Produkte und Technologien zur persönlichen Mobilität drinnen und draußen und zum Transport (z. B. Rollstühle, Gehhilfen)
e125 Produkte und Technologien zur Kommunikation (z. B. Hörhilfen)
e135 Produkte und Technologien für die Erwerbstätigkeit (z. B. Computer, Möbel)
e250-e260 Licht, Klima, Geräusche usw. (z. B. Arbeits- und Gesundheitsschutz)
e325 Kollegen (Gibt es einen/zwei Ansprechpartner im Betrieb? Wie ist die Kommunikation mit Kollegen?)
e330 Autoritätspersonen, Personen mit Entscheidungsverantwortung für Andere (Trägt der Vorgesetzte das Konzept? Ist die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen im Personalkonzept verankert?)
e340 Persönliche Hilfs- und Pflegepersonen (z. B. für Pflegebedürftige)
e360 Andere Fachleute (Integrationshelfer, Arbeitsassistenz, Berater, Integrationsfachdienste)
e425 Individuelle Einstellungen von Kollegen (zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen)
e430 Individuelle Einstellungen von Autoritätspersonen (zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen)
e435 Individuelle Einstellungen von Untergebenen (zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen)
e540 Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze des Transportwesens (z. B. wie ist der Arbeitsplatz erreichbar? Anfahrt, öffentliche Verkehrsmittel?)
e570 Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze der sozialen Sicherheit (Alle finanziellen Leistungen wie lohnergänzende Leistungen, Sozialversicherung, Krankengeld, Leistungen des Integrationsamtes etc.)
e590 Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze des Arbeits- und Beschäftigungswesens (Regelungen SGB IX, Zuschüsse an Arbeitgeber etc.)
e595 Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze der Politik (UN-Konvention, GG, SGB IX).


Zu ergänzen bei den Kontextfaktoren wären noch Qualifizierung am Arbeitsplatz (training on the job). Hierfür wurde keine geeigneter Kontextfaktor gefunden.


Probleme der Codierung

Die ICF schlägt in der deutsche Fassung folgende Codierung vor:

Tabelle: vorgeschlagene Codierung
Barriere Förderfaktor
xxx.0 nicht vorhanden

(ohne, kein, unerheblich ...)

4%

xxx+0 nicht vorhanden
xxx.1 leicht ausgeprägt (schwach, gering ...)
5-24%
xxx+1 leicht ausgeprägt
xxx.2 mäßig ausgeprägt (mittel, ziemlich ...)
25-49%
xxx+2 mäßig ausgeprägt
xxx.3 erheblich ausgeprägt (hoch, äußerst ...)
50-95%
xxx+3 erheblich ausgeprägt
xxx.4 voll ausgeprägt (komplett, total ...)
96-100%
xxx+4 voll ausgeprägt
xxx.8 nicht spezifiziert xxx+8 nicht spezifiziert
xxx.9 nicht anwendbar

Wie generell bei der ICF-Codierung sind auch bei Bewertung der Kontextfaktoren klarere und trennschärfere Beurteilungskriterien zu entwickeln.


Personbezogene Faktoren


Obwohl personbezogene Faktoren nicht klassifiziert sind, dürften Faktoren wie Begabung, Wunsch und Wille des Betroffenen für eine erfolgreich unterstützte Beschäftigung nicht vernachlässigt werden.

Zusammenfassung


Eine stärkere Integration von Menschen mit Behinderungen in den allgemeinen Arbeitsmarkt, denen bisher nur Beschäftigungsmöglichkeiten in Werkstätten zur Verfügung steht, ist dringend erforderlich und ein Beitrag zur Inklusion. Die Kontextfaktoren der ICF sind gut geeignet, die Bedingungen für eine erfolgreiche Eingliederung durch unterstützte Beschäftigung zu beschreiben. Allerdings bedarf es noch einer Konkretisierung der Items sowie einer zu erarbeitenden Bewertungsskala.

Literatur

  • Blesinger, B. (o.J.). Handlungsansätze zur kooperativen Gestaltung integrativer beruflicher Teilhabeangebote. http://www.bagub.de/publikationen/handlungsansaetze.pdf. Zugriff: 10.03.2011
  • Detmar, W., Gehrmann, M., König, F., Momper, D., Pieda, B. & Radatz, J. (2008). Entwicklung der Zugangszahlen zu Werkstätten für behinderte Menschen / ISB-Gesellschaft für Integration, Sozialforschung und Betriebspädagogik gGmbH. Im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Bonn: BMAS
  • Doose, S. (2007). Unterstützte Beschäftigung. Marburg: Lebenshilfe-Verlag
  • EUSE Europäischer Dachverband für unterstützte Beschäftigung (2007). Qualitätsstandards für Unterstützte Beschäftigung. http://www.bagub.de/ub/download/ub_quality_EUSE_de. pdf. Zugriff: 10.03.2011
  • Kaßelmann, O. & Rüttgers, J. (2005). Verbleib- und Verlaufsstudie der von Integrationsfachdiensten in Westfalen-Lippe von 1994 bis 1997 auf den allgemeinen Arbeitsmarkt vermittelten schwerbehinderten Menschen mit Lernschwierigkeiten. Münster: LWL
  • Zelfel, R. C. (2008). Berufliche Rehabilitation im Wandel von Arbeitswelt und Gesellschaft [Elektronische Ressource]. Dissertation Universität Bamberg, http://URN: urn:nbn:de:bvb:473-opus-1274URN: urn:nbn:de:bvb:473-opus-1274, URL: http://www.opus-bayern.de/uni-bamberg/volltexte/2008/127/
  • Zelfel, R. C. (2007). Zu den ICF-Kategorien d855 „unbezahlte Tätigkeit“, d850 ''bezahlte Tätigkeit''. http://www.deutsche-rentenversicherung-bund.de/nn_10462/SharedDocs/de/Inhalt/Zielgruppen/01__sozialmedizin__forschung/04__klassifikationen/dateianhaenge/icf__dokumentation__5__anwenderkonferenz,
    templateId=raw,property=publicationFile.pdf/icf_dokument. Zugriff: 10.03.2010
  • Zelfel, R. C. (2007). Möglichkeiten und Grenzen von ICF-Kriterien bei der beruflichen Ersteingliederung von jungen Menschen mit Lern- und anderen Behinderungen. Berufliche Rehabilitation, 21 (4), 201-209

Dr. Dipl.-Psych. Rudolf C. Zelfel

Hochschule Madgeburg-Stendal, Fachbereich Angewandte Humanwissenschaften + Universität Bamberg, Fakultät Humanwissenschaften

Prof. Dr. Matthias Morfeld

Hochschule Magdeburg-Stendal, Fachbereich Angewandte Humanwissenschaften

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